Annika Reuter spricht mit uns über die Herausforderungen ihres Schulausstiegs, wie es sich anfühlt, im freien Fall zu sein und warum sie sich nicht mehr vorstellen kann, wieder als Lehrerin zu arbeiten.
Annika, du sagst, dass dein Ausstieg aus dem Schuldienst eigentlich „nur ein Jobwechsel war“. Nichtsdestotrotz ist es ja doch ein sehr ungewöhnlicher Schritt …
ANNIKA REUTER: Ja, es hat sich auch sehr lange sehr ungewöhnlich angefühlt. Dass es „nur ein Jobwechsel“ war, konnte ich erst mit viel Abstand erkennen. Mein Umfeld hat mir schließlich durchgehend gespiegelt, dass das, was ich da tat, nicht ganz normal war. „Wie kannst du nur deine Sicherheit aufgeben?“, hörte ich sehr oft.
Was denkst du, woran es liegt, dass der Ausstieg aus dem Schuldienst und der Lebenszeitbeamtung in vielen Menschen so starke Reaktionen auslöst?
ANNIKA REUTER: Ich denke, dass hat zum einen damit zu tun, dass viele Menschen, die im Schuldienst arbeiten, generell ängstlich sind und äußere Sicherheit brauchen, um sich wohlzufühlen. Die Lebenszeitbeamtung gibt dem Leben eine klare Struktur, da muss man sich nicht mehr sorgen. Zum anderen liegt es daran, dass es bisher einfach noch nicht genug gemacht haben. Daher fühlt es sich auch noch so an, als wäre es „unnormal“.
Wie hat sich der Sicherheitsverlust im Außen für dich denn angefühlt?
ANNIKA REUTER: Oh Mann, ich hatte sehr viel Angst. Es war grauenvoll. Der Gedanke, kein sicheres Gehalt mehr zu bekommen und auch nicht wirklich zu wissen, wie es nach dem Ausstieg für mich weiterging, hat mich innerlich zeitweise zerrissen. Ich musste mich intensiv mit meiner Einstellung zu Geld auseinandersetzen, habe mich durch viele Panikwellen durchgeatmet und mir immer wieder bewusst gemacht, wie wenig ich eigentlich zum Leben brauche. Außerdem hatte ich gut gespart und zwischendurch auch als Verkäuferin gearbeitet. Mir war einfach klar, dass ich durch diese Mindfucks durchmusste, um voranzukommen. Die Angst vor dem Sicherheitsverlust hat mich schließlich viel zu lange im Schulstress festgehalten und ich wollte ja was Neues.
Wie hast du diese fordernden Phasen überstanden?
ANNIKA REUTER: Ich habe viele Coachingsitzungen zur Umprogrammierung meiner Glaubenssätze gemacht und nach dem Ausstieg mehrere Workshops zu meinem Money Mindset. Das hat sehr geholfen. Zu verstehen, dass Geld völlig neutral ist, wir ihm aber so eine unglaubliche Bedeutung beimessen - dabei ist es lediglich ein Tauschmittel. Ich habe gelernt, dass Geld wie jede andere Energie immer im Fluss sein muss. Wenn man der, ebenso wie etwa Liebe oder Freundschaft, erlaubt, zu kommen, findet alles auch viel besser seinen Weg.
Und? Hat es bisher geklappt?
ANNIKA REUTER: Ich würde sagen, ja. Ich wurde zum Beispiel nach dem Ausstieg zu einer Quizsendung im Fernsehen eingeladen und gewann dort über viertausend Euro. Oder ich fand Geld vor meiner Haustüre. Geldprobleme hatte ich hatte bisher tatsächlich nur im Kopf, nicht in der Realität. Aber ich habe in den letzten Jahren finanziell auf sehr viel verzichtet, um meinen Weg zu gehen. Habe Kleidung zum Beispiel nur noch getauscht, viel mit Energieausgleich anstatt Bezahlung gearbeitet.
Bist du denn inzwischen dort angekommen, wo du hinwolltest oder hält der „freie Fall“ noch an?
ANNIKA REUTER: Ich bin immer noch auf dem Weg in das Leben, das ich mir ausgemalt habe: Ich möchte als Autorin arbeiten, ein eigenes Bühnenprogramm haben, bei dem ich auch meinen Gesang und eigene Songs einbringen kann. Ich wünsche mir eine gemütliche Homebase im Rheinland und gleichzeitig so viel Freiheit, dass ich immer wieder mehrere Monate am Stück irgendwo in der Ferne weiter an meinen Projekten arbeiten kann. Der freie Fall hält also noch immer an, aber er macht mir keine Angst mehr. Ich habe inzwischen sehr viel Vertrauen in meinen Weg und weiß, dass sich alles organisch entwickelt. Einfach, weil ich mit viel Disziplin bereits den notwendigen Rahmen dafür geschaffen habe.
Du warst über vierzehn Jahre im Lehrberuf. Gab es denn diesen einen Moment, wo du wusstest: Es geht nicht mehr, ich steige aus?
ANNIKA REUTER: Ich glaube, diesen Gedanken hatte ich schon sehr früh, etwa nach drei Jahren in der Festanstellung. Das Problem war, ich fand keinen Weg raus. Die richtige Gewissheit, dass ich wirklich gehen und irgendeinen Ausweg finden würde, kam aber erst im Februar 2019, und zwar so richtig unumstößlich klar. Trotzdem hat es nicht diesen einen Auslöser gegeben. Es war ein jahrelanger Zermürbungs- und Ausbrennungsprozess. In den Weihnachtsferien vor meiner Klarheit war ich auf Sri Lanka, wo ich mit ganz viel emotionalem Drama einen kleinen Hundewelpen rettete. Das sprengte mir so sehr das Herz frei, dass ich auf einmal wusste, dass ich nun auch irgendwie den Schulausstieg schaffen würde. Ich konnte auch einfach nicht mehr. Ich war immer müde, mir ging es körperlich schlecht und ich wollte so nicht weiterleben. Isabell Probst, die damals noch unbekannte Expertin für den Schulausstieg, fand ich dann nur einige Monate später.
Warum war es denn so schwer, aus dem Schuldienst auszusteigen? Man kann sich von außen gar nicht vorstellen, dass das so ein komplizierter Prozess ist.
ANNIKA REUTER: Und wie kompliziert das ist! Es wird mittlerweile einfacher, weil sich wichtige Fakten über die sozialen Medien endlich verbreiten, aber als ich 2019 aussteigen wollte, gab es noch fast gar nichts – keine zugänglichen Informationen, wie man rauskommt, was mich nach der Entamtung erwartete und wen ich bei Fragen ansprechen konnte. Ich hatte absolut keine Ahnung und bis heute kennt sich das Arbeitsamt in der Regel ebenso wenig aus wie Lehrergewerkschaften. Dazu kam, dass ich im gesamten Umfeld nicht gerade auf Verständnis stieß.
Worauf verzichtet man denn genau, wenn man sich entamten lässt?
ANNIKA REUTER: Zuallererst verzichtet man in Nordrhein-Westfalen auf seine gesamten erarbeiteten Pensionsansprüche. In manchen anderen Bundesländern darf man die in Form des Altersgelds in Teilen behalten, aber mein Bruttoeinkommen wurde einfach nach dem Ausstieg wie eine reguläre Rente nachversichert. Dadurch habe ich sehr viel Geld verloren. Ansonsten wird man als Beamt:in so nur behandelt, wenn man unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wird, weil man zum Beispiel zwölf Monate im Gefängnis war.
Vermisst du irgendetwas am Schuldienst?
ANNIKA REUTER: Ich habe zwar immer gerne mit den Menschen in der Schule gearbeitet, hatte Spaß am Unterrichten, an Teamwork und liebte meine Klassen. Aber Intensität und Verantwortung waren zu krass und ich muss ganz ehrlich sagen: Ich vermisse absolut nichts. Ich bin kein sentimentaler Mensch.
Bei welchen Dingen bist du besonders froh, dass du sie los bist?
ANNIKA REUTER: Ich hatte zwei Korrekturfächer und mein größter Lebenstraum war es, nie wieder zu korrigieren. Ich genieße bis heute, dass mein Kopf endlich frei ist und ich Wochenenden oder einfach mal einzelne Tage zwischendurch richtig entspannen kann. Dass ich nicht mehr an Ferienzeiten gebunden bin, um wegzufahren oder dass ich nicht mehr tagtäglich mit Informationen und Menschen zugeballert werde. Das hat mich immer wahnsinnig gestresst und ich hatte dadurch zahlreiche gesundheitliche Beschwerden, die ich endlich losgeworden bin. Am schönsten ist es, dass ich wieder erholsam schlafe.
Das hört sich an, als wäre es dir gesundheitlich wirklich schlecht gegangen …
ANNIKA REUTER: Ja, ich war dauerhaft in ärztlicher Behandlung und hatte Kundenkarten in verschiedenen Apotheken. Da war seelisch und körperlich vieles im Argen und nach dem Schulausstieg hatte ich erstmal mehrere Monate extrem mit meiner großen Erschöpfung zu tun. Die zeigte sich fast drei Jahre immer wieder phasenweise und ich habe mittlerweile sehr viel Zeit und Geld in meine Heilung investiert. Heute, knapp vier Jahre später, würde ich mich endlich als gesund bezeichnen.
Was ist deine größte Kritik am Schulsystem?
ANNIKA REUTER: Dass es Menschen in der Unmündigkeit hält, indem Informationen für die Selbstbestimmung zurückgehalten werden. Und das gilt für Lernende, die nicht beigebracht bekommen, was sie für ein selbst bestimmtes Leben brauchen, und die Lehrkräfte. Der Dienstherr, also das jeweilige Bundesland, hat all diese Paragrafen für die Lehrer:innen, aber was er selbst einzuhalten hat und was „staatliche Fürsorge“ genau bedeutet, weiß kein Mensch. Der Dienstherr geht sauschlecht mit seinen Diener:innen um. Es ist ein durch und durch menschenunfreundliches System mit fragwürdigen Werten, das Fehler abstraft, Menschen in Raster presst, abfertigt, aufs Funktionieren vorbereitet und auf Leistung drillt. Und das hat direkte Auswirkungen auf den Unterricht und die Schüler:innen.
Du hältst auch Vorträge vor Referendar:innen. Was rätst du angehenden Lehrer:innen?
ANNIKA REUTER: Macht euch mündig! Jede Person soll ihren eigenen Weg gehen, aber bitte mit dem notwendigen Wissen! Ich erlebe immer wieder, dass viele junge Leute ein extrem romantisiertes Bild vom Beruf Lehrerin oder Lehrer haben. Traut euch, auch die unschönen Realitäten anzuschauen und trefft dann auf dieser Basis eure eigene Entscheidung. Nur wer weiß, worauf er oder sie sich einlässt, kann sich im Notfall auch entsprechend helfen.
Wenn du dir deinen Weg so anschaust: Was würdest du im Nachhinein anders machen?
ANNIKA REUTER: Ich wäre gerne schon als Schülerin mehr mit meinen wahren Talenten und Wünschen in Kontakt gebracht worden. Oder hätte im Studium über Alternativen zum Lehrberuf erfahren wollen oder darüber, was es psychisch und körperlich bedeutet, sich verbeamten zu lassen, was es für Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Wenn ich früher verstanden hätte, aus welchen Motiven ich was tue oder eben nicht tue, hätte ich sicher früher einen gesünderen und für mich stimmigeren Weg einschlagen. Aber natürlich hätte ich dann auch viele Learnings verpasst. Durch meine Ausbildung und Lehrerinnentätigkeit kann ich natürlich heute effizient meine Zeit managen, im Akkord lesen, schreiben und lektorieren oder weiß sehr gut über diverse Heilmethoden Bescheid.
Könntest du dir vorstellen, nochmal in den Schuldienst zurückzukehren?
ANNIKA REUTER: Nein, nur im alleräußersten Notfall, wenn ich ganz dringend Kohle bräuchte und keine Alternativen hätte. Mein Körper würde da blockieren, der macht so einen Stress nicht mehr mit.
Was wünscht du dir für die Zukunft von Schule?
ANNIKA REUTER: Ich wünsche mir, dass Schule endlich menschenfreundlich wird und liebend mit allen umgeht, die sie besuchen, in ihr arbeiten oder sonst wie involviert sind. Dass Lehrer:innen endlich ermündigt und mutig werden, denn sie sind viel machtvoller, als sie es bisher verstehen. Wir brauchen sinnvollere Lerninhalte und Schule sollte von Menschen gemacht werden, die Ahnung haben. Und Politiker:innen sollten endlich aufhören, so viel Blödsinn zu reden, und viel Geld in Bildung investieren. Denn an Schulen liegt das Fundament für die Zukunft unseres Landes.
Was rätst du Lehrerinnen und Lehrern, die aktiv im Schuldienst sind?
ANNIKA REUTER: Hört auf mit dem blinden Respekt vor Autoritäten. Informiert euch über eure Rechte, Privilegien und die Grauzonen und guckt ehrlich hin. Nutzt eure Privatversicherung für die gezielte, rechtzeitige Heilung von Erschöpfungszuständen und deckt die Glaubenssätze und Ängste auf, die euch im Funktionswahn halten und verhindern, dass ihr euch für euch selbst und andere einsteht. Wehrt euch und werdet laut. Gemeinsam könnt ihr viel bewegen.
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